Obwohl ich erst am Montag seit einem viertel Jahr hier in Peru lebe, denke ich ist die Zeit jetzt schon reif um mir einen Rückblick zu erlauben. Beim Lesen der ersten Berichte fällt mir auf, dass ich alles von einem äußeren Standpunkt, der mehr einem Touristen gleicht, betrachte. Der chaotische und zu gleich atemberaubende Verkehr in Lima und auch in Piura beeindruckte und beunruhigte meine vorsichtige, regelliebende, deutsche Seele. Die Verkehrsmittel (Taxi, Mototaxi und Moto) und deren "Ausstattungen" ließen mich an meiner Sicherheit zweifeln. Die Pfiffe auf der Straße und das permanente "Anmachen" war sehr gewöhnungsbedürfig. Das Essen und die Früchtevielfalt beeindruckten meine Feinschmeckerseele zu tiefst. Staubige, löchrige Straßen und Müll an jeder Ecke kamen mir am Anfang sehr abenteuerlich vor. Die Geräuschkulisse (Eismann, Zeitungsmann, Müllauto, Gemüsemann, Taxis, Autoalarmanlage, Rückwärtsgang der Autos...) brachte mir viele schlaflose Nächte. Zwei Stunden Bus kamen mir noch wie eine große Entfernung und eine weite Reise vor.
Nach drei Monaten fühle ich mich mittlerweile sehr heimisch in Piura. Nach Wochenendausflügen habe ich das Gefühl nach Hause zurückzukehren und freue mich auch. Mein Standpunkt ist von einem ganz touristischen äußeren, dem Zentrum näher gerückt. Dies liegt zum Einen daran, dass ich mich an viele Dinge gewöhnt habe und mich angepasst habe. Nun finde ich die Lücken im Verkehr schneller und muss nicht mehr ängstlich eine gefühlte halbe Stunde warten. Mit vielen "Regeln" des Verkehrs bin ich vertraut und weiß sie als Fußgänger einzuschätzen. Die Fahrten auf den Sandwegen nach La Tortuga und in die Ludoteca sind zu ganz normalen Wegen für mich geworden. Um Sicherheit im Auto mache ich mir nicht mehr solche Sorgen, ich vertraue dem Fahrer einfach. Den Müll nehme ich nicht mehr bewusst wahr und ich ekele mich auch nicht mehr davor durch die Sandparks zu gehen. In der absoluten Stille von Canchaque vermisste ich die Geräuschkulisse von Piura schon irgendwie. Die piuranische Küche und die große Obstauswahl lassen mein Herz immer noch höher schlagen. An die Pfiffe und die besondere Aufmerksamkeit, die man als Europäerin geschenkt bekommt, habe ich mich insofern gewöhnt, dass ich sie mittlerweile überhöre. Doch dies ist meist der Punkt der mich spüren lässt, dass ich nicht aus Piura komme und also nie den ganz zentralen Standpunkt erreichen werde.
Die Arbeit betrachte ich in diesem Sinne zwiespältig. Auf der einen Seite fühle ich mich superwohl, integriert und nützlich. Ich kann meine Meinung bei Versammlungen und Workshops ungehindert vorstellen und meine Ideen einbringen. Mir wird Verantwortung für die Nachhilfeklasse übertragen. Und ich gehe immer noch motiviert zur Arbeit. Die andere Seite der Medaille ist nur, dass ich durch viele Geschichten nun weiß, dass sich die Realität der Kinder um Meilen von der meinen unterscheidet. Ich bin wohlbehütet und sorgenfrei aufgewachsen und konnte stets auf den Rückhalt meiner Eltern vertrauen. Wenn ich etwas brauchte bzw. brauche kann ich es mir immer leisten. Diese Dinge lernte ich zu schätzen, wenn Geschichten von Gaby und Carola erzählt werden. Über Jocabeth, die sich so über eine Spieluhr zu Geburtstag freute und sie ihr dann von ihren älteren Brüdern zum Verkaufen auf dem Markt entwendet wurde. Alexis, der sich sein Frühstück erklauen muss und wenn dies nicht klappt nimmt er es aus dem Müll. Ein Jean-Pierre dessen Zukunft als Drogenschmuggler nach Ecuador schon vorbestimmt ist. Und eine Mutter, die ihren Sohn Alexis so lang mit dem Gürtel schlägt bis sie selbst weint. Trotzdem lacht Jocabeth fröhlich, wenn ich mich mit ihr drehe. Trotzdem begrüßt Alexis mich jeden Tag herzlich und empatisch mit "Mis Ana!". Trotzdem hat Jean-Pierre eine abgeschlossene Kochausbildung und bereitet uns immer wunderbares Essen bei Manitos Trabajando. Trotzdem hat Alexis seinen Spaß beim Spielen in der Ludoteca. Diese Eindrücke öffnen mir die Augen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen